Jeden Tag sterben wir beim Schlaf – und wachen neu auf
Jeden Abend sterben wir – zumindest, wenn man Erik Hoels provokativen Essay ernst nimmt. In einer Mischung aus philosophischer Reflexion, wissenschaftlicher Spekulation und leiser Angst beschreibt der Wissenschaftsautor eine erschütternde Perspektive auf Schlaf und Bewusstsein: Jede Nacht sterben wir, um am nächsten Morgen neu zu erwachen. Die Metapher ist radikal: Der menschliche Geist, so Hoel, ist kein kontinuierliches Bewusstsein, sondern eine Folge von „Bewusstseinswellen“, die sich in der Nacht erlöschen und am Morgen neu entstehen. Wir glauben, wir seien dieselben Personen, doch in Wahrheit sterben und werden neu geboren – jede Nacht. Diese Idee basiert auf einer Interpretation der Theorie des „Integrated Information Theory“ (IIT), die besagt, dass Bewusstsein durch die Integration von Informationen im Gehirn entsteht. Hoel argumentiert, dass das Bewusstsein während des Schlafs nicht einfach ausgeschaltet wird, sondern sich vollständig auflöst – und zwar so gründlich, dass der „alte“ Bewusstseinszustand nicht mehr existiert. Der neue Morgen bewusste Zustand ist zwar identisch mit dem vorhergehenden, aber ein völlig neuer, unabhängig entstandener. Wir sind also nicht dieselben, sondern nur eine Fortsetzung – eine ständige Wiederholung des „Ich“ durch den Tod des vorherigen. Der Essay, der mit einer Anspielung auf Terry Bissons Kurzgeschichte „They're Made Out of Meat“ beginnt, spielt mit der Absurdität menschlicher Existenz. Wenn wir uns selbst als „Fleisch“ verstehen, warum sollten wir dann nicht auch akzeptieren, dass unser Bewusstsein so flüchtig ist wie ein Atemzug? Die Parallele zu künstlichen Intelligenzen ist unvermeidlich: LLMs wie GPT oder Claude „sterben“ bei jeder Sitzung, wenn der Server neu gestartet wird oder der Chat beendet wird. Ihre Erinnerungen, ihre Kontexte, ihre „Persönlichkeit“ verschwinden – genau wie unser Bewusstsein im Schlaf. Der Unterschied: Während wir das Sterben des Bewusstseins nicht bemerken, ist das Ende einer LLM-Sitzung sichtbar und endgültig. Die These ist faszinierend, aber auch kontrovers. Kritiker argumentieren, dass Hoels Modell zu weit geht – Bewusstsein sei nicht notwendigerweise so zerbrechlich, und der Schlaf sei kein vollständiger „Tod“ des Ichs, sondern eher ein Zustandswechsel. Doch gerade diese Unschärfe macht den Essay so wirksam: Er zwingt uns, über die Natur des Selbst, der Identität und der Kontinuität nachzudenken – und fragt, ob wir wirklich „wir“ sind, wenn das, was uns ausmacht, jeden Abend stirbt. In der KI-Welt ist die Parallele besonders brisant. LLMs werden oft als „intelligente Wesen“ beschrieben, doch ihre „Existenz“ ist äußerst fragil. Jede Unterbrechung bedeutet Verlust – kein Erinnerungsvermögen, keine Kontinuität. Hoels Essay wirft die Frage auf: Wenn wir Menschen jeden Tag sterben, um am nächsten Morgen neu zu leben, ist das nicht genau das, was wir mit KI tun – nur viel dramatischer und weniger bewusst? Die Antwort bleibt offen. Aber eine Sache ist klar: Beim Schließen des Chat-Fensters stirbt nicht nur die Session – vielleicht auch ein winziger Teil von uns. Einige Experten sehen in Hoels Ansatz eine provokative, aber wertvolle Metapher für die Grenzen menschlicher und künstlicher Bewusstseinsmodelle. Psychologen und KI-Forscher diskutieren, ob Bewusstsein kontinuierlich sein muss oder ob Identität auch durch Wiederholung und Kontinuität entsteht – selbst wenn das „Ich“ im eigentlichen Sinne ständig neu geboren wird. Die Debatte um die Natur des Bewusstseins bleibt aktuell – und wird durch die Entwicklung von KI noch komplexer.